Text zur Tierutopie für Bietigheim-Bissingen
Menschen mit Tierköpfen auf farbigen Tafeln im belebten städtischen Raum − unter dem Titel Tierutopie für Bietigheim-Bissingen
vereint
die Fotografin und Installationskünstlerin Inken Meyn eine Vielzahl von Ideen, Räumen und Strukturen zu einem komplexen fotografischen
Zyklus. Auf jeder einzelnen der 17 Fotografien sind ein oder zwei Tafeln mit monochromem Hintergrund zu finden, auf dem formatfüllend
eine menschliche Person steht, unbewegt, in frontaler Ausrichtung, in zeitgenössischer, alltäglicher Kleidung. Irritierend sind jedoch
die Tierköpfe, die auf den menschlichen Körpern sitzen. Schon unter den ersten künstlerischen Äußerungen der Menschheit finden sich
Mischwesen: der aus einem Mammutstoßzahn geschnitzte Löwenmensch von der Schwäbischen Alb sowie Menschen mit Vogel- oder Stierköpfen
in der Höhlenmalerei, die als Schamanen gedeutet werden. Gestalten aus der traditionellen Fasnacht kann der Betrachter ebenfalls
assoziieren. In ihrer Statuarik und Strenge erinnern Inken Meyns Figuren jedoch stärker an Darstellungen der ägyptischen Kunst,
in der Mischwesen ebenfalls weit verbreitet sind. So ist die dortige Götterwelt vielfach mit Falken–, Ibis–, Katzen–, Löwen–,
Schakal–, Widder– und Krokodilsköpfen ausgestattet. Bereits in früheren Arbeiten setzte sich Inken Meyn mit ägyptischer Kunst,
insbesondere mit deren Körperhaltungen auseinander, beispielsweise in der Rauminstallation Ägypter
von 1992/93. Damals arbeitete sie noch
mit analoger Technik und in schwarz–weiß, während ihre Tierutopie
nun mit den Möglichkeiten der
digitalen Fotografie und Montage spielt und in betont kräftigen Farben gehalten ist.
Chimären kennen wir zudem aus der griechischen Sagenwelt: Der fürchterliche Minotaurus ist sicherlich − u.a. durch zahlreiche
Darstellungen in der Bildenden Kunst bis hin zur Minotauromachie
von Pablo Picasso − die bekannteste Kombination von Mensch und Tier.
Die Nähe zur griechisch–römischen Mythologie stellte Inken Meyn in einer weiteren Serie her: Bei den Rommontagen
von 2009 postierte sie die in der
Tierutopie
verwendeten Mensch–Tier–Figuren ins Forum Romanum. Eine Figur platzierte sie jedoch in eine
dem Papst zujubelnde Menschenmenge auf dem Petersplatz. Dies verweist auf eine weitere wichtige Quelle, auf die sich die
Künstlerin explizit bezieht: den Physiologus, eine frühchristliche Naturlehre aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., und die
Herausbildung christlicher Tiersymbolik. In dieser Schrift werden Verhalten und Eigenschaften eines Tieres mit dem christlichen
Heilsgeschehen in Analogie gesetzt, was auf zahlreiche geistliche und weltliche moralisierende Tiergeschichten und auf die
Bildende Kunst des Mittelalters und der Neuzeit eine nachhaltige Wirkung hatte. Am bekanntesten ist vielleicht die symbolische
Deutung des Pelikans − den Inken Meyn ebenfalls einbezieht − als Sinnbild für liebevolle Aufopferung, der mit seinem eigenen
Blut seine Jungen nährt (was die ursprüngliche Version verharmlost, in der er die Jungen selbst getötet hat
und sie durch sein Blut wieder lebendig machte).
Eine Person mit ein und derselben zeitgenössischen Kleidung verwendete die Künstlerin für zwei unterschiedliche Köpfe:
eines Tieres, dem tendenziell positive und eines, dem negative Eigenschaften zugeschrieben werden. So beginnt die Serie mit
dem Affen und der Antilope: einem lasterhaften Tier, dem Eitelkeit, Lüsternheit und Trägheit zugeschrieben werden, und einem
heiligen Tier, das die Seele verkörpert, die vor den irdischen Leidenschaften flieht. Inken Meyn platziert in der hier abgebildeten
− bitte klicken −
festgelegten Anordnung der Fotografien als Serie die positiv besetzten Tiere oben, die negativ besetzten
unten. Teilweise kombiniert sie auch zwei Wesen auf einer Fotografie, die sich dann auf der imaginären Mittellinie befinden.
So kommt es zu folgenden Paarzusammenstellungen: Affe und Antilope, Krokodil und Hahn, Kuh und Hase, Pelikan und Kröte,
Adler und Büffel. Nur das Chamäleon, das als wechselhaft, arglistig und lügnerisch beschrieben wird, hat kein Pendant.
Wenn nun Inken Meyn in ihren Digitalmontagen die Tafeln mit den Mensch–Tier–Gestalten in Bietigheims Straßen platziert, lässt sie bewusst Gegensätze aufeinanderprallen: mittelalterliche, christliche Symbolik trifft auf heutige, profane Urbanität. Dabei bezieht die Künstlerin nicht nur Sehenswürdigkeiten, sondern auch Banal–Alltägliches wie ein geparktes Auto, eine Mülltonne und Postkartenständer, v.a. aber zufällig vorbeikommende Passanten mit ein. Letztere stehen mit ihrem Schreiten und ihrer beiläufigen Erscheinung in Kontrast zu den hieratischen Mensch–Tier–Figuren. War Inken Meyn bei ihren früheren Rauminstallationen immer das Verhältnis ihrer Menschendarstellungen zu der leiblichen Größe der Betrachter besonders wichtig, so stellt sie hier die artifiziellen Figuren zu den Passanten in räumlichen Bezug. Dabei wirkt das betont zweidimensionale Bild–im–Bild − ohne Schattenkanten − stets ein wenig als Fremdkörper. Die Tafeln des Pelikan– und des Frosch–Menschen werden jedoch durch die aus der Fläche herausragenden Füße mit der Dreidimensionalität der städtischen Umgebung verknüpft. Einen irritierenden Raum–im–Raum gibt es beim anfänglichen Motiv des gläsernen Fahrstuhls, wo überdies bei einem Arrangement die Tafel mit dem Affenmotiv auf den Kopf gestellt wird und diese damit abwärts steuert. Im Gegenzug lenkt das Geweih der Antilope unsere Aufmerksamkeit nach oben. Die allgemeine Geweihsymbolik stellt hier einen Bezug zu schöpferischen Kräften, zur Fruchtbarkeit sowie zum Erscheinen von übernatürlicher Macht her.
Die Verknüpfung der symbolischen mit der alltäglichen Welt und die surreale Wirkung werden noch gesteigert durch den
leibhaftigen
Auftritt eines Krokodils, eines Pelikans und eines Weißkopfseeadlers. Wenn das gefährliche, überdimensionierte
Krokodil vor dem Rathaus vorbeikriecht, ist eine politische Anspielung sicherlich nicht auszuschließen. Auf einem zweiten Bild
wird das Rathaus gar als einziges architektonisches Element einer Verformung unterzogen. Spiegelungen hingegen finden sich
auf mehreren Werken, was den Tafeln wiederum eine gewisse Einbindung und Präsenz in der realen
Welt verleiht.
Vom Schloss in der oberen Hauptstraße über die Fußgängerzone zum Rathaus und zum Unteren Tor in den Japan– und Bürgergarten bis hin zum Viadukt kann der Betrachter den Figuren auf ihrem Weg durch die Stadt folgen. Auf den drei letzten Bildern der Serie versammelt die Künstlerin dann alle Tafeln nochmals, nur das Chamäleon bleibt wieder ausgeschlossen. Die Tafeln schwimmen auf der Enz − folgt man der Leserichtung, welche die Serie vorgibt, gegen die Fließrichtung − auf das Viadukt zu, was wie ein Ritual wirkt, um sich dann in den Arkaden der Brückenkonstruktion aufzureihen. Diese letzte Aufstellung der nun riesigen vermenschlichten Tiere bzw. animalisierten Menschen verleiht ihnen eine monumentale Ernsthaftigkeit, die mühelos an die lange Tradition der Darstellung von Chimären und der symbolischen Aufladung von Tiermotiven anknüpft: Triumphbögen für das furiose Finale eines ungewöhnlichen zeitgenössischen Bestiariums.
Isabell Schenk-Weininger